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Kulturelle Veranstaltungen

HYPERRALISMUS
EINE WELTWEITE BEWEGUNG

Der erste Teil der Ausstellung befasst sich mit dem Fotorealismus, wie er ab 1965 in den USA entstand.

© Richard ESTES / Bus avec reflet du Flatiron Building, 1966-67, huile sur toile, 36 × 48 pouces

Es ging nicht mehr darum, die Realität, die Welt (Stadt- oder Landschaften, Brust- oder Ganzkörperporträts, Stillleben, Autos oder Maschinen) zu malen, indem man die Staffelei vor die Szene stellt, sondern darum, eine Fotografie zu malen, d. h. eine Realität, die durch eine damals über ein Jahrhundert alte Technik erfunden wurde.

Die Ästhetik der Fotokunst (Bildausschnitt, Kontrast, Unschärfe, Überbelichtung, Abzugs- und Entwicklungsfehler) wurde zur Ressource dieses völlig neuen malerischen Ausdrucks.

Eine Fotografie hält ein Bild fest, das unser Auge in der Regel nur unbewusst wahrnimmt. Der fotorealistische Maler wird daher überall auf der Straße Fotokampagnen durchführen, um das Bild aufzuspüren, das ihn malerisch interessiert. Er wird sich der Herausforderung stellen, das Foto (oder mehrere Fotos, was auch immer) mit größtmöglicher Genauigkeit und Treue zu reproduzieren.

1969 eröffnete Ivan C. Karp seine Kunstgalerie O.K. Harris in New York, und 1973 eröffnete Louis K. Meisel seine eigene Galerie ebenfalls in New York, in einer Zeit des wachsenden Erfolgs des Fotorealismus, der eine besonders attraktive, erfinderische und innovative Alternative zur Pop-Art zu bieten schien und für den diese beiden Galeristen die eigentlichen Förderer dieser neuen Avantgarde sein sollten.

Der von Louis K. Meisel geprägte Begriff « Fotorealismus » setzte sich nach und nach nach anderen Ausdrücken durch, die man in den Titeln von Gruppenausstellungen findet, wie « Realism now » (New York, 1968), « Radical realism » (Chicago, 1971) oder « Sharp-focus realism » (New York, 1972), der sich eindeutig auf die « Fokussierung » des Objektivs einer Kamera bezieht.

In Europa taucht sofort ein anderer Begriff auf: « Hyperrealismus », der von Isy Brachot in Brüssel geprägt wurde und bei dem die absolut präzise Maltechnik der Verwendung einer Fotografie vorgezogen zu werden scheint. Es ist also zu beobachten, dass die Verwendung des Wortes Fotorealismus in Deutschland (Württemberg, Stuttgart, Frankfurt, Wuppertal 1972-1973) oder in England (London 1973) durch das Wort Hyperrealismus in Belgien (Brüssel 1973) und Frankreich (Paris 1973 und 1974) konkurrenziert wird. Die beiden Begriffe werden in der Welt der zeitgenössischen Kunst trotz ihrer offensichtlichen konzeptionellen Unterschiede zu Synonymen. Es sei darauf hingewiesen, dass es auch annähernde Versuche gab, wie « Super realism » (Baltimore, 1975).

© Robert BECHTEL  /  56 Chrysler, 1965, oil on canvas

Es ist an der Zeit zu sagen, dass das Auftauchen des Fotorealismus/ Hyperrealismus in den 65er Jahren ein kapitales Ereignis war. Hier sind Kunstwerke, die uns dazu auffordern, das zu sehen, was wir uns – entweder weil es zu banal oder zu unbefriedigend ist – nicht ansehen wollen.

Dabei geht es um die Frage, ob die Darstellung, die wir uns von der Welt, in der wir leben, machen, wahr ist oder nicht.

Hier sind Gemälde, die unsere übliche Auffassung von moderner Kunst brutalisieren, nämlich dass die Geste des Künstlers, aufgelöst in ihrer perfekten Technizität, verschwindet, ebenso wie die Autonomie der Farbe und die Harmonie der Formen, zugunsten einer neutralen und distanzierten beschreibenden Literalität.

Was für eine Redlichkeit!

In der Retrospektive wird die räumliche Gestaltung des Ausstellungsraums zunächst eine Reihe von Werken der Künstler zeigen, die sich seit Ende der 1960er Jahre mit dieser neuen Malweise auseinandergesetzt haben – ein Trend ohne Manifest, ohne den Willen, eine kohärente Gruppe zu bilden, aber eine künstlerische Erneuerung, die unseren Blick erheblich verändert hat. Dann folgten in der Folge die 13 Gründer (erwähnt von Louis K. Meisel 1985 in seinem Buch « Photorealism » / Herausgeber: Harry N. Abrams) der ersten Generation dieser neuen künstlerischen Bewegung.

© Ralph GOINGS / Interior, 1972, Oil on canvas, 36 x 52 in. (91.4 x 132 cm.)

So werden wir in diesem ersten Teil Werke amerikanischer Künstler ausstellen, die sowohl aus Künstlerateliers als auch aus Museen, Galerien oder auch Privatsammlungen stammen.

Wir denken dabei insbesondere an Duane Hanson (1925-1996), Ralph Goings (1928), Audrey Flack (1931), Richard Estes (1932), Robert Bechtle (1932), Richard McLean (1934-2014), Charles Bell (1935-1995), Robert Cottingham (1935), Ron Kleemann (1937), Tom Blackwell (1938-2020), Chuck Close (1940-2021), John De Andrea (1941), Ben Schonzeit (1942), Don Eddy (1944), sowie John Kacere (1920-1999), Jack Mendenhall (1937), John Clem Clarke (1937), John Baeder (1938), David Parrish (1939), Vija Celmins (1939), Paul Staiger (1941), Noël Mahaffey (1944), schließlich Gus Heinze (1926), Denis Peterson (1944), aber auch des Angloamerikaners Malcolm Morley (1931) und des Engländers John Salt (1937).

©  Franz GERTSCH / Medici, 1971–1972, Dispersion auf ungrundiertem Halbleinen, 400 × 600 cm

Völlig außerhalb des amerikanischen Kulturkreises haben drei europäische Künstler Werke produziert, die man als fotorealistisch bezeichnen kann:

der französische Künstler Jean Olivier Hucleux (1923-2012),

der Schweizer Künstler Franz Gertsch (1930-2022),

der deutsche Künstler Gerhard Richter (1932), wobei der Ansatz des letzteren einen Kontrapunkt setzt, der auf ganz andere Weise als die vorherigen unsere Beziehung zum Bild und zum visuellen Gedächtnis problematisiert.

Es hätten auch andere Künstler ausgewählt werden können, wie Joseph Raffael (1933-2021), Reynard Milici (1942) oder der taiwanesische Künstler Hilo Chen (1942), der bei den ersten Gruppenausstellungen oft anwesend war.

 

Dieser erste Teil, der dem Fotorealismus gewidmet ist, legt den Grundstein für das, was wir eher als Hyperrealismus der nachfolgenden Generationen bis hin zur Gegenwart bezeichnen würden, dem Gegenstand des zweiten Teils unseres Projekts.